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Griechenland vor den Wahlen – Das organisierte Gebrechen
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1. Das organisierte Gebrechen
2. Der Staat als Hauptarbeitgeber
3. Gesetze als Rechtfertigung fürs NichtstunVon A. Stefanidis und K. Strittmatter
9 Uhr, Xiloupoli: Der Bürgermeister. Ilias Chaitidis. 45 Jahre alt, verheiratet, zwei Töchter. Ein Büro hat er hier im Ort, ein paar Kilometer vor Thessaloniki. Aber er verbringt seine Tage lieber im Auto. Am Handy. Wer ihn braucht, ruft ihn an. Diesmal braucht er etwas. Die Chefin des städtischen Gesundheitsamtes hat ihm einen Erste-Hilfe-Kasten für den Fußballverein versprochen. Sie begrüßt ihn mit Küsschen. Beide gehören der konservativen Nea Dimokratia von Kostas Karamanlis an.
Es sieht schlecht aus für die Partei. Sie unterhalten sich. Über die Wahl. Über ein Förderprogramm der EU, bei dem Praktika vergeben werden, mit 500 Euro im Monat für griechische Verhältnisse sehr gut bezahlt. Hier verdienen viele nicht mehr als 700 Euro. Die Amtschefin meint, man solle die Praktika vor der Wahl noch schnell vergeben und darauf achten, dass "die richtigen Leute" sie bekämen. Chaitidis legt den Verbandskasten in den Kofferraum.
Griechenland. Athen. Stimmen. "Wir sind ein Witz, wir sind Zerstörer", sagt die Schriftstellerin. "Ich weine, wenn ich das Gesicht meines Landes brennen sehe", sagt der Komiker. Das Feuer, das Land: "Eine einzige geniale Katastrophe", sagt der Feuerwehrmann. 32 Löschfahrzeuge waren sie im August, eilten herbei von Thessaloniki, Athen zu retten. Die Freiwillige Feuerwehr. Befehlshabender: Nikos Sachinidis, 57 Jahre alt, sechs Herzinfarkte. Sie brausten über die Autobahn, nein – wollten brausen. Hatten aber nicht mit der Maut gerechnet. Jedes Mal bremsen, bezahlen, 32 Mal die Schranke hoch und runter, fahren, bremsen, bezahlen. Attika stand da schon in Flammen. "7529 Euro kostete uns das", sagt Nikos Sachinidis, "und genau fünfeinhalb Stunden Verspätung."
Als die Freiwilligen die Feuerfront erreichten, da sahen sie sich von zornigen Bürgern umringt. "Wo wart Ihr? Wofür bezahlen wir Euch?" Man verwechselte sie mit der Berufsfeuerwehr. Beschimpfte und schlug sie. Am Ende hatten sie 98.000 Euro aus eigener Tasche bezahlt. Das Finanzministerium bedauert: Kein Geld in der Kasse. Es war die zweite Waldbrandtragödie in zwei Jahren. 2007 waren 70 Menschen verbrannt. Damals hatten die Feuerwehren geklagt, jeder dritte Wagen sei defekt, 3000 Stellen seien unbesetzt. Und diesmal?
O-Ton Feuerwehrgewerkschaft: "Die Gelder wurden gekürzt. Der Präventionsdienst gegen Waldbrände abgeschafft. 3.400 Stellen sind unbesetzt." "Der gleiche Film, die gleichen Schauspieler und das gleiche Drehbuch", sagt Kostas Kalfopoulos, Essayist der konservativen Zeitung Kathimerini.
11 Uhr 25: Vor dem Gesundheits- und Sozialamt trifft Bürgermeister Chaitidis einen alten Bekannten. "Wie geht’s? Wo arbeitest du jetzt? Auch bei der Firma?" – "Firma" nennt man hier nicht wie mancherorts das organisierte Verbrechen. Die "Firma" ist der griechische Staat. Das organisierte Gebrechen. Auf den ersten Blick sieht Griechenland aus wie ein modernes europäisches Land. Dann hört man, wie die Leute sagen: "Wir fahren nach Europa." Es ist nützlich, sich den Begriff Rusfeti zu merken. Das ist eine Gefälligkeit. Die Rusfeti ist eigentliche Münze des Landes, der Euro nur Zweitwährung. Griechenland produziert fast nichts. Es gibt die Inseln und die Sonne. Es gibt die Reeder. Und es gibt den Staat.
Griechenland vor den Wahlen – Der Staat als Hauptarbeitgeber
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1. Das organisierte Gebrechen
2. Der Staat als Hauptarbeitgeber
3. Gesetze als Rechtfertigung fürs Nichtstun"Zwei Drittel des Bruttoinlandsproduktes stellt der öffentliche Sektor. Er ist der größte Käufer", sagt der Rechtsanwalt Thanos Tsevas. "Deshalb hat das Klientelsystem alles im Griff." Ziel einer Partei ist es, den Staat zu erobern, um ihn unter den eigenen Leuten aufzuteilen. "Was meinst Du, wo das Bestechungsgeld von Siemens hin ist?", fragt Lakis Lazopoulos: "Das verteilen sie. An ihre Leute. An die Journalisten." Lazopoulos ist der bekannteste politische Komiker Griechenlands. Er hat eine Show auf Alpha TV. Es ist ihm bitterernst.
Nach den Feuern von 2007 teilte die Regierung aus: 3000 Euro auf die Hand, für jeden Bewohner der Brandgebiete. Es reichte, den Pass vorzuzeigen. Leute reisten aus dem Ausland an. Im Monat darauf fanden Wahlen statt. Die Regierung gewann. "Hier kaufst du alles, auch den Führerschein", sagt Lazopoulos: "Ämter funktionieren hier wie Firmen. Eine Hausbaulizenz kostet eigentlich 300 Euro? Dann bezahlst du 5000." Jeder macht mit. Krankenhausärzte laden zur Folgeuntersuchung in die Privatpraxis. Jobs stehen nicht im Stellenmarkt. "Ihr Sohn möchte die Stelle als Hafenbeamter? Ich höre, Sie haben da einen schönen Orangenhain."
Reformen? "Karamanlis ist gescheitert. Papandreou wird scheitern. 1000 Prozent", sagt Lazopoulos. "Sie reißen nicht ein, was sie selbst aufgebaut haben." Karamanlis, der Konservative; Papandreou, der Sozialist. Zwei Familien, ein System. "Als mein Vater noch ein Kind war in den 1930er Jahren, war der alte Karamanlis Abgeordneter. Jetzt leben meine Kinder wieder unter einem Karamanlis", sagt Rechtsanwalt Tsevas: "Wir hatten den Großvater Papandreou, den Sohn Papandreou, nun bekommen wir den Enkel Papandreou."
Regierungsangestellte schaffen Jobs für ihre Verwandten
Die konservative Regierung wird die Wahlen verlieren. Also hat sie in diesem Jahr 70000 neue Stellen geschaffen. Für Töchter, Söhne, Vettern, Onkel und Freunde. Junge Griechen träumen davon, Beamte zu werden. So viele Leute, die ihr Geld vom Staat beziehen, gibt es sonst nirgendwo in Europa: Jeder vierte Erwerbstätige. Dabei ist der Staat praktisch bankrott. "Griechenland pleite? Verzeihung, aber das ist eine Information die wir so nicht haben", sagt Lakis Lazopoulos und lächelt: "Du sagst, du hast kein Geld? Komm schon …" Er zwinkert: "Irgendwo hast du noch was versteckt. Jeder Grieche hat etwas versteckt. Auch der Staat. Daran glauben wir. Fest."
Kurz vor 12: In der Ablage des Ford liegt ein Briefumschlag. Darauf ein Name: der Assistent des Polizeipräsidenten. Geld? Schon die Vermutung bringt Bürgermeister Chaitidis in Rage. "Ich habe noch nie Geld angenommen. Und ich habe noch nie jemanden geschmiert." Was also? "Es ist eine Baugenehmigung für ein Haus in Xiloupoli. Wir kommen aus demselben Dorf. Und da ich gerade in der Gegend bin, bringe ich ihm die Unterlagen vorbei." Bürgerservice. Der Beamte bedankt sich mit einem Frappé und der Versicherung, die ganze Familie werde beim nächsten Urnengang Chaitidis wählen.
Der Geist von Olympia ist längst nicht mehr da
Die Olympischen Spiele 2004. Aufbruch. Begeisterung. Perfekte Organisation. "Damals dachten wir: Jawohl, das sind wir! Wir waren so stolz. Es hätte ein Neuanfang sein können", sagt Thanos Tsevas. Der kranke Apparat, die grassierende Steuerflucht: "Das hätten unsere nächsten Spiele sein können. Alle hätten mitgemacht." Bloß einer machte nicht mit: Das alte System.
Eine Vollbremsung sei das gewesen 2004, meint auch der Verleger Fotis Georgeles: "Und wenn du eine Vollbremsung machst, dann haut es dich eben durch die Windschutzscheibe." In der vom Weltwirtschaftsforum erstellten Rangliste der Wettbewerbsfähigkeit stand Griechenland im Jahr 2000 auf Platz 33. Heute steht es auf Platz 71, hinter Botswana und Kasachstan.
Griechenland vor den Wahlen – Gesetze als Rechtfertigung fürs Nichtstun
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1. Das organisierte Gebrechen
2. Der Staat als Hauptarbeitgeber
3. Gesetze als Rechtfertigung fürs NichtstunUnd wo ist das Gemeinwohl geblieben? "Gemeinwohl? So etwas kennen wir hier nicht", sagt der Schriftsteller Dionysis Charitopoulos. "Auch die Bürger kümmert nur mehr ihr privates Überleben." Das Volk ist Komplize. Arbeitet schwarz. Baut illegal im Wald und erwartet, dass der Staat am nächsten Tag Strom und Wasser liefert. Und der Staat liefert. Bis heute ermutigen Gesetzeslücken die Brandstifter geradezu, den Wald in Asche zu legen, damit daraus neue Villen erwachsen.
Nicht fehlende Gesetze jedoch seien das Problem, sagt Anwalt Tsevas. Im Gegenteil, hier stürze sich die Regierung geradezu besessen ins Gesetzemachen – "damit sie nicht handeln muss." Tsevas ringt sich ein trockenes Lachen ab. "Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass aus Griechenland noch ein Rechtsstaat wird."
14 Uhr 50: Das Handy klingelt. Ein Athener Unternehmer. Er braucht eine Baugenehmigung, bietet Chaitidis 3600 Euro für "etwas Hilfe" an. Chaitidis bricht das Gespräch ab. Er ist seit 26 Jahren Beamter, verdient 1200 Euro im Monat. Damit zählt er zu den Besserverdienenden. Aber andere Beamte haben sich millionenteure Villen gebaut, fahren BMW. Chaitidis lebt mit seiner Familie im Haus des verstorbenen Vaters und fährt den alten Ford.
Schmiergeld nennt man in Griechenland Spende
"Hätte mein Vater je erfahren, dass ich Schmiergeld nehme, er hätte mich keines Blickes mehr gewürdigt." Und die täglichen Rusfeti? Hat er nicht selbst gesagt, in der Woche läpperten sich so 200 bis 250 Freundschaftsdienste zusammen? "Das gehört zum Geschäft. Wenn ich mich hier auskopple, würde mich nicht nur lächerlich, sondern auch unglaubwürdig machen." Später wird er dem Unternehmer eine Spende für die Kinderhilfsstiftung der Gemeinde vorschlagen.
"Ein Land geboren aus Zorn". So sieht es der Autor und Verleger Aris Maragopoulos. Er bestellt einen Kaffee, setzt an und holt erst eine Stunde später wieder Luft: "Wir hatten einen Bürgerkrieg, später, bis 1974, die Militärdiktatur. Dieses Erbe drückt noch heute unserem Leben den Stempel auf. Das Land ist gefangen in Ideologien. Links oder Rechts, Freund oder Feind.
Die Zielscheibe der Griechen ist der Staat. Und ihre Religion ist der Zorn. Deshalb sehen sie sich immer im Recht, egal wie sehr sie dem Gemeinwohl schaden. Wie es um das Land bestellt ist? Schau‘ dir unseren Bauernsalat an. Hier gibt es die aromatischsten Tomaten und Gurken, den besten Fetakäse. Und was machen sie daraus in unseren Tavernen? Schmeißen es auf den Teller als sei es Abfall und gießen schlechtes Olivenöl darüber. Die Menschen glauben nicht mehr an sich."
Nur das Netzwerk zählt
15 Uhr 35: Im Nachbarort treffen sich zwanzig Bürgermeister, alle von der Nea Dimokratia. Parteichef Karamanlis kommt nach Saloniki. Sie brauchen Omnibusse für ihre Gemeindemitglieder. Chaitidis telefoniert mit einem befreundeten Reisebusveranstalter und überredet ihn, drei Busse zur Verfügung zu stellen. Das Gespräch dauert keine 30 Sekunden, über einen Preis wurde nicht gesprochen.
Im Dezember 2008 stockte dem Land der Atem. Diesmal brannte die Hauptstadt. Auf den Straßen die Jugend, die ihren Zorn und ihre Verzweiflung herausbrüllte. Zorn über 30 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, über Löhne von 700 Euro in einer Stadt teurer als München, über die Demütigung, dass nicht Eifer, Leistung oder Intelligenz zählen, sondern allein die Netzwerke der Rusfeti. "Das gibt mir Hoffnung", sagt der Dichter und Musiker Giannis Aggelakas: "Zum ersten Mal reagiert eine Generation auf den Verfall des Systems."
Die Jungen, glaubt auch Aris Maragopoulos, verstünden den Ernst der Lage, anders als ihre Eltern. "Aus dem Instinkt heraus. Da gärt etwas." Wann also dürfen wir mit dem ersten Blinzeln des Komapatienten rechnen? Der Komiker: "In zwei Jahren." Der Verleger: "In fünf bis zehn Jahren." Der Rechtsanwalt: "In 100 Jahren. Bei den nächsten Olympischen Spielen in Athen."
18 Uhr 30: Auf der Fahrt nach Hause. Das Handy klingelt. Am anderen Ende meldet sich ein junger Mann, der nun monatlich 500 Euro EU-Fördermittel erhalten wird. Der Mann bedankt sich bei Chaitidis für den "Praktikumsplatz". Seine Stimme habe er. Der Bürgermeister schaut zufrieden.
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