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Hier ein zwar etwas längerer, aber lesenswerter Artikel der Neuen]www.nzz.ch]Neuen Züricher Zeitung[/url] aus der Reihe "Schauplätze Olympia 2004":
Insel der unmöglichen Möglichkeiten
Olympisches Fussballturnier in Heraklion als Chance für Kretas Entwicklung?
Gemäss Mythologie hat Rea nach der Geburt von Zeus den kretischen Idaioi Daktyloi den Auftrag gegeben, ihren Sohn zu beschützen. Einer dieser Protektoren war Idaios Herkules, der später nach Olympia zog und dort Wettläufe organisierte. Kreta, der Ursprungsort der olympischen Idee also und gleichsam Wiege der europäischen Kultur, steht heute in einem schwierigen Spannungsfeld von Historie, Tradition und Moderne.
Sie seien speziell und eigen, die Kreter, hatte eine Athener Bekannte vor dem Abstecher nach Heraklion gewarnt. «Rau, wild, stolz, chauvinistisch und gesetzlos – geprägt von der trockenen, kargen, bergigen und archaischen Landschaft sowie von den zahlreichen Kreuzzügen der Völker und Kulturen.» Ein Widerspruch zu der in den Reiseführern gepriesenen Offenheit, Grossherzigkeit, Gastfreundlichkeit, Freigebigkeit und Authentizität. Doch handkehrum – das eine schliesst ja das andere nicht aus – wieder auch nicht.
Symbol für Verteidigungswillen
Kreta – der Ursprung Europas; Wiege der minoischen Kultur, die vor 4000 Jahren und mehr den Mittelmeerraum prägte, von der so vieles ausging und von der noch heute mehrere Paläste (Knossos, Festos usw.) oder Villen (Tylissos, Agia Triada) zeugen. Kreta – Insel der Mythen und Legenden; von der phönizischen Königstochter Europa etwa, die von Zeus in Gestalt eines weissen Stiers nach Kreta entführt wurde. Kreta – Symbol für Freiheit und Verteidigungswillen gegen die Belagerungen durch die Römer, durch sarazenische Piraten, Venezianer oder Türken und erst seit 1913 autonom und mit dem restlichen Griechenland vereint. Kreta – Geburtsort schillernder Persönlichkeiten wie des Malers Dominikos Theotokopoulos (bekannt als El Greco), des Dichters und Gelehrten Nikos Kazantzakis (u. a. Odyssee-Übersetzer, Autor von «Alexis Zorbas»), des bedeutenden griechischen Ministerpräsidenten Eleftherios Venizelos (1864-1936) oder – mit Aktualitätsbezug – der Olympia-OK- Chefin Gianna Angelopoulou, geborene Daskalaki, oder der Athener Bürgermeisterin Dora Bakojannis.
«Eine Insel der unmöglichen Möglichkeiten», sagt dazu Nicolas Theodossakis. Der promovierte Geograph, der viele Jahre in Deutschland lebte und seit seiner Rückkehr in seine Heimat in Heraklion mehrere Läden mit Produkten aus biologischem Landbau aufgebaut hat, romantisiert nicht. Kreta, mit gut 500 000 ganzjährigen Einwohnern (rund 150 000 leben in der Hauptstadt Heraklion) die grösste und bevölkerungsreichste Insel des griechischen Archipels, habe es im Laufe der letzten Jahre freilich verpasst, sich als Landwirtschaftsgebiet (vor allem Gemüsebau, Weintrauben und Olivenöl) mit touristischen Nebenaktivitäten nachhaltig zu entwickeln, stattdessen baue es vielerorts ausschliesslich aufs schnelle Geld aus dem Tourismus, sagt er. Planlos, unkoordiniert, ohne realistische Umweltverträglichkeitsprüfungen und Studien zur Nachhaltigkeit sowie ohne gesetzliche Kontrolle seien touristische Siedlungen und Projekte aus dem Boden gestampft worden; zum Teil auf den fruchtbarsten Gebieten entlang der Küste. Mit dem Resultat wohlverstanden, dass bei der anhaltenden touristischen Krise – verursacht mitunter auch durch mangelnden Service, überrissene Preise und Unfreundlichkeit – die Probleme je länger, je mannigfaltiger würden und die Identität der Bevölkerung verloren gehe. «Man kann sich ja nicht immer nur auf die 4000 Jahre alte Geschichte berufen», meint Theodossakis.
Teil II siehe Folge-Posting …
Fortsetzung:
Infrastruktureller Zeitsprung
Zacharias Doxastakis, der vom Athens Organizing Committee for the Olympic Games (Athoc) in Heraklion eingesetzte City Manager (er war davor 16 Jahre lang Gemeindevorsteher der auf Billigtourismus ausgerichteten Siedlung Hersonisos im Osten Heraklions), weist das Spannungsfeld nicht von der Hand. Umso wichtiger sei es für Kreta, das bezüglich Forschung und Technologie wie auch universitärer Ausbildung in Griechenland eine Leaderposition einnimmt, dass frische Märkte erschlossen und neue (touristische) Ausrichtungen gefunden würden, sagt er. In diesem Zusammenhang sei die Integration Heraklions in die Olympischen Spiele wertvoll – infrastrukturell wie auch ideologisch. Heraklion mache dank Olympia in Sachen Verbesserungsmassnahmen (Strassen, Aufbesserung ganzer Quartiere usw.) einen Zeitsprung. Wobei in diesem Zusammenhang festzuhalten ist, dass beispielsweise die geschlossenen Lücken im Herakler Kanalisationssystem als «olympisches Projekt» betitelt wurden – eine im 21. Jahrhundert doch etwas nachdenklich stimmende Tatsache für eine touristische Hochburg.
Wie auch immer: 180 Millionen Euro sind für das Facelifting Heraklions aus dem olympischen Budget aufgewendet worden, weitere 50 Millionen für die Vollendung des multifunktionellen Pankritio-Stadions, in dem vom 11. bis 26. August mehrere Gruppenspiele sowie ein Viertel- und ein Halbfinal der olympischen Fussballturniere (Männer und Frauen) stattfinden werden. Just die Multi-purpose-Nutzungsmöglichkeit der Arena (siehe Kasten), deren jährliche Betriebskosten auf 3 Millionen Euro veranschlagt sind, erschliesst laut Doxastakis in Sachen Sporttourismus (z. B. Trainingslager), aber auch in Sachen Messe- und Kongresszentrum neue Möglichkeiten.
Der Kreter Idaios Herkules, Beschützer Zeus’ und Namensgeber Heraklions, soll es laut Mythologie gewesen sein, der die Olympischen Spiele «erfunden» hat. Seine in Olympia umgesetzte Idee sowie die Tatsache, dass Sport bereits im minoischen Kreta als Vollendung des tief religiösen Geistes mit der Pflege des Körpers eine zentrale Bedeutung hatte, verleihen der Integration der Insel in das Projekt «Athen 2004» zumindest aus historischer Sicht einen abrundenden Inhalt. Dieser wird noch durch die Tatsache verstärkt, dass Kreta jener Ort ist, wo in Griechenland erstmals Fussball gespielt wurde (Ende des 19. Jahrhunderts von englischen Besatzungstruppen).
Teil III siehe Folge-Posting
Fortsetzung:
Zeichen der Integration
Gut 300 km (d. h. mehrere Schifffahrtsstunden) von Athen entfernt liegt die kretische Hauptstadt Heraklion – was für die Insulaner, für die Transport und Mobilität mit Energie gleichgesetzt werden kann, nicht immer einfach ist. Dass die Kreter trotz Isolation vom Festland und vergleichsweise wenig Unterstützung von Regierungsseite dieser stets die Treue hielten (Kreta war der einzige Landkreis, der auch bei den letzten Parlamentswahlen im März die bis dahin regierende Pasok- Partei wählte), erstaunt umso mehr.
Ihre Einbindung in die Olympischen Spiele empfinden viele Kreter nun aber als Zeichen der Integration, obwohl einige die Kurzfristigkeit kritisieren und eine schillernde Schein-Fassade ohne Nachhaltigkeit monieren. Dass die Umsetzung der olympischen Wettkämpfe auf Kreta zum Erfolg werde, darauf vertraut man allerdings – nicht zuletzt Heraklions Bürgermeister Jannis Kourakis wegen, des früheren stellvertretenden Kulturministers Griechenlands (zuständig für Sport). Als die olympische Flamme vor zwei Wochen Kreta «besuchte» (mit der gebürtigen Kreterin Gianna Angelopoulou-Daskalaki als Fackelläuferin in Knossos im Einsatz), zeugte auf der ganzen Insel ein beachtlicher Zuschaueraufmarsch von Interesse und Identifikation.
Den Einwohnern Heraklions bleibt nach den Spielen neben gewissen infrastrukturellen Aufwertungen ein in der Tat beachtliches Stadion, das laut dem sportlichen Berater der Stadt – Tsirakos Dimitrios – für Wettkämpfe jeglichen Genres benützt werden kann. In der 27 000 Zuschauern Platz bietenden Hauptarena gelangten neben Fussballmatches (u. a. spielte die Schweiz im März gegen Griechenland) bereits internationale Leichtathletik-Meetings zur Austragung. 2005 werden mehrere Sportarten der Mittelmeer-Jugendspiele im Pankritio-Stadion durchgeführt, das zahlreiche Neben- Arenen, Hallen, Pools und Trainingseinrichtungen (30 000 Quadratmeter gedeckt) beherbergt. Der Sport auf Kreta ist mehr oder weniger ein Abbild des gesamtgriechischen Sports. Fussball ist die Nummer 1 (diese Saison spielen zwei kretische Klubs – OFI und neu Ergotelis – in der höchsten Liga), dahinter folgen Basketball und Leichtathletik. Im Zusammenhang mit dem Tourismus liegen aber auch neue Sportarten wie Triathlon oder Badminton im Trend.
Kali mera Herbert,
toller Artikel, zeigte er doch, dass man sich gegen die Moderne immer noch ein bisschen wehrt und das Denken eben noch archaeisch ist. Aber die kommenden Generationen haben schon eine andere Einstellung. Dass durch den Gewinn der Europameisterschaft der Fussball auf einmal boomt, ist eine normale Reaktion, war doch Basketball der Lieblingssport der Griechen. Sogar Handball wird langsam salonfaehig, was mich besonders freut, denn ich war in dieser Sportart sehr aktiv.
Zur Zeit sitze ich an einem Konzept, den Agrotourismus mehr zu forcieren, denn Kreta bietet sich dafuer bestens an, aber das zu bewerkstelligen ist nicht so einfach. Mit Sicherheit werde ich eine Loesung finden – in Ruhe.
LefterisLefteris,
AGROTOURISMUS – Was muss ich darunter verstehen? Meinst du, dass mehr europäische Bauern nach Kreta fahren, ihre Kollegen besuchen und umgekehrt oder meinst du damit Urlaub auf dem Bauernhof?
Weil wir schon bei Tourismus im Allgemeinen sind. Mich hat in Plakias wie auch auf Karpathos gewundert, dass die Bergwelt so wenig erschlossen ist. Gerade die Zeit von März bis Mai bzw. von Oktober bis Dezember könnte wunderbar mit Wanderurlaub verlängert werden.
Dazu wären aber gut gekennzeichnete Wege, Hütten mit dem Standard von Pensionen und eine funktionierende Bergrettung notwendig. Die Installierung einer Bergrettung würde gleichzeitig die medizinische Versorgung der Bevölkerung verbessern und könnte als Bergwacht die Aufgaben von Feuerwehr und Naturschutz mit übernehmen.
Liebe Grüße
Rocky,
im Lefka Ori (weissen Berge) betreibt der Oesterreichische Alpenverein eine Berghuette und man kann ueber 16 Zweitausender wandern, aber bitte nie ohne Fuehrer.
Unter Agrotourismus verstehe ich in erster Linie, Landwirte, die sich gegenseitig besuchen und sich ueber die im Lande gebraeuchlichen Anbau- und Ernteweisen zu informieren. Die Oesterreicher machen das seit Jahren und sehr erfolgreich. Urlaub auf dem Bauernhof ist hier nicht moeglich, weil es in diesem Sinne keine Bauernhoefe gibt.
Was das erschliessen der Bergwelt betrifft, so ist es sehr schwierig. Gerade im Winter, wenn es regnet, entstehen eklatante Katastrophen. Ganze Strassen werden weggespuelt, Steinschlag usw. Stelle Dir vor, dass Kreta in der Antike nur aus Waeldern bestand. Durch Palastbauten und Schiffsbau wurde nahezu alles abgeholzt und somit hat Kreta keinen Mutterboden mehr. Es finden in einigen Regionen Aufforstungen statt, die Jahrzehnte brauchen werden, bis sie sich zu Waeldern entwickelt haben.
LefterisHallo Herbert
toller Artikel aus der NZZ, haette ihn wahrscheinlich erst naechste Woche entdeckt (wenn uebehaupt), denn ich stehe hinten auf dem Verteiler fuer die NZZ bei uns im Buero.
Dieser Artikel ist ein Beweis mehr dafuer, dass Kreta momentan in der Schweiz sehr populaer ist, auch als Urlaubsdestination, wie ich schon an anderer Seite hier im Forum geschrieben habe und wie es auch Lefteris bestaetigt hat. Dieser Trend hat sich in den letzten Jahren abgezeichnet, dies auf Kosten von Spanien und seinen Inseln.
Silvia -
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